Sonntag, 1. Mai 2016

Familienleben vs Nesthocker: Über das Ausziehen.

Es gibt so Sachen, über die spricht man nicht. Das Themenspektrum dieser Sachen ist breit und für jeden ein kleines bisschen anders. Für mich ist ein Teil des Themenspektrums, dass ich bis vor ein paar Wochen noch bei meinen Eltern gewohnt habe.

Und, schon jemand erschrocken vom Stuhl gefallen?

An sich erscheint es nicht weiter schlimm zu sein, doch um ehrlich zu sein war das schon länger ein Fakt, für den ich mich insgeheim geschämt habe. Vor allem gegenüber meinen Kommilitonen.
Ich habe das Gefühl, dass von mir als inzwischen 23 jähriger Studentin erwartet wird, selbstständig zu sein, bei den Eltern ausgezogen zu sein. Es gibt typische Wörter und Ausdrücke, die diesen negativen Aspekt des Zusammenlebens mit der Familie beschreiben: Nesthocker. Hotel Mama.

Je länger man über diese Begriffe nachdenkt, desto mehr assoziiert man ein Wohnen bei den Eltern nach dem Schulabschluss als Zeichen einer fehlenden Selbstständigkeit, als Ausdruck einer gescheiterten Existenz. Zumindest erging es mir so.
Der finale Entschluss zum Auszug fiel bei mir auch unter anderem deshalb.

Zu meiner Familie habe ich ein gutes Verhältnis, durch die Nähe zur Universität war das Pendeln gut möglich und sparte gleichzeitig die Mietkosten für die Studentenbude. Auch die Arbeitsteilung innerhalb der Familie ist eine großartige Sache. Der Haushalt funktioniert einfach effizienter, wenn man die täglichen Aufgaben auf mehrere Personen verteilen kann. Nicht umsonst ist es nicht lange her, dass Großfamilien unter einem Dach lebten, um alle Aufgaben von Ackerbau über Lebensmittelverarbeitung bis hin zu gegenseitiger Hilfeleistung untereinander aufzuteilen. Nun braucht man aber keinen Ackerbau mehr, da es Supermärkte gibt und statt zu Oma kommt der Nachwuchs in die Kita. Und schwupps, das war es dann mit den zusammen lebenden Großfamilien.

Während andere Studenten in der Prüfungszeit mit knurrendem Magen über den Büchern hingen, profitierte ich davon, dass Mutti den Wocheneinkauf machte und ich daher nicht vor dem leeren Kühlschrank stand. Auch wenn das Familienleben viele Vorteile bietet, hat es offen gesagt doch auch seine Nachteile. Selbstbestimmung darüber, was man wann essen möchte, ist nicht immer gegeben. Zwar habe ich das indem ich meist diejenige war, die für alle gekocht hat, ganz gut an meine eigenen Vorstellungen ausgewogener und schmackhafter Ernährung anpassen können, jedoch lässt sich dadurch nicht verhindern, dass Opa spontan mit fürsorglich geschmierten Mettbrötchen (weiße Brötchen, 1cm dicke Butterscheibe, rohes Hack) vorbei kam oder die Mehrheit beschloss, Grießbrei zu einer Hauptmahlzeit zu erklären (obwohl das eh nicht langfristig satt macht und süße Gerichte meiner Meinung nach per se nur als Dessert geeignet sind).
Auch der eigene allgemeine Tagesrhythmus muss in einer Hausgemeinschaft an den der anderen angepasst werden, was häufig sehr unpraktisch war.
Das größte Manko ist jedoch, beim Verabreden mit Freunden und viel mehr noch den Bekannten zugeben zu müssen, dass man noch bei der Familie wohnt. Man wird einfach schief angesehen. Und man muss vor jedem Besuch aus gegenseitiger Rücksicht seine Eltern darüber informieren, was nun auch nicht meine liebste Tätigkeit war. Es fühlte sich albern und einschränkend an - immerhin bin ich doch alt genug, selbst zu entscheiden, ob und wann ich ich mit jemandem verabrede!

Insgesamt war ich zufrieden mit dem Leben gemeinsam mit der Familie auch wenn es so gewisse Nachteile hat. Es war aber nie wirklich schlimm, sodass ich nie an dem Punkt war, dass ich die Tage zählte, bis ich endlich nicht mehr bei ihnen wohnen müsste.
Trotzdem habe ich mich für einen Auszug entschieden. Einen großen Teil der Entscheidung hat der soziale Druck ausgemacht, dieses Unwohlsein beim Gedanken, in die Verlegenheit zu kommen, jemanden zu sich einladen zu wollen - selbst wenn das Zimmer hübsch, die Familie liebenswert und das Haus im Grünen war. Genauso war aber auch eine gewisse Neugier auf das Leben in einer eigenen Wohnung da, auf die neuen Möglichkeiten, freier zu entscheiden.

Inzwischen lebe ich nun schon seit über einem Monat in meiner WG und bin sehr glücklich, hier angekommen zu sein. Die Fahrtwege zur Uni haben sich extrem verkürzt, spontane Besuche bei Freunden sind einfach möglich und statt Mettbrötchen kochen wir zusammen, was das Gemüseangebot so hergibt. Es ist eine neue Herausforderung, sich an das Leben mit einer Mitbewohnerin heran zu tasten, Grenzen abzustecken, Aufgaben zu verteilen. Man unternimmt spontan großartige Dinge vom gemeinsamen Kochen über Joggingausflüge in den Park oder Yoga am Abend. Allein dafür hätte der Auszug sich schon gelohnt.
Die für mich wahrscheinlich einschneidendste Veränderung? Der Weg zur Uni, meinen Sportkursen und Freunden hat sich extrem verkürzt. Dazu ist es sehr erleichternd, sich gegenüber Mitstudenten nicht mehr für den eigenen Wohnort zu schämen beziehungsweise den Fakt, dass man nicht wie gefühlt alle anderen allein wohnt.

Was ich bisher am meisten vermisse, sind definitiv der tolle Garten, die Tageszeitung und meine Familie selbst. Und die Möglichkeit, jede Woche ein neues Kuchenrezept von einem der ganzen tollen Kochblogs auszuprobieren. Zu zweit kann man einfach nicht so viel Kuchen verdrücken wie vier Personen. Nun ja, zumindest nicht ohne auf Dauer an Gewicht zuzulegen.
Am Wochenende bei der Familie vorbei zu schauen, ihnen einen Kuchen zu backen, den Garten zu bepflanzen, den Kater zu kraulen und sich über die Woche auszutauschen funktioniert gut als Ausgleich für die Dinge, die ich momentan vermisse.
Opa ist jedes Mal erleichtert zu sehen, dass ich wieder ein paar Wochen mehr allein überlebt habe. In seiner Weltanschauung zieht man nämlich vor seiner Hochzeit und der damit zusammenhängenden eigenen Familiengründung nicht einfach aus. Deshalb war seine erste Frage zum Auszug auch, ob ich jetzt mit jemandem durchbrenne oder meine Eltern mich raus geschmissen hätten.

Insgesamt bin ich sehr glücklich mit der Situation. Trotzdem ärgere ich mich noch immer, dass einem das Gefühl vermittelt wird, dass es schrecklich abnormal wäre, mit seiner Familie zusammen zu wohnen. Wenn man sich untereinander versteht, sehe ich da kein Problem. Andere vielleicht auch nicht - erst letzte Woche habe ich von zwei Kommilitonen gehört, wie sie sich über die Vorteile, mit ihrer Familie zusammen zu wohnen unterhalten haben.  Im ersten Moment war ich völlig überrascht, dass ich scheinbar nicht der letzte Mensch war, der noch nicht ausgezogen war. Dann wurde mir auch klar weshalb: alle anderen scheinen sich genauso sehr dafür zu schämen wie ich und das Thema tot zu schweigen.

Wie denkt ihr darüber?

12 Kommentare:

  1. Ja, länger als nötig bei den Eltern wohnen ist peinlich. Ich habe es auch deutlich länger bei meinen Eltern ausgehalten als nötig, hatte aber auch im dortigen Haus das (Spitz-)Dachgeschoss und ein Zimmer darunter für mich alleine zur Verfügung. Auch nicht besser. Beide Elternteile arbeiteten, so daß ich regelmäßig nachmittags meine Ruhe hatte. Als mein Vater dann sehr kurzfristig in den Vorruhestand ging, wurde aber allerhöchste Zeit, sich was eigenes zu suchen.

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    1. Interessante Formulierung: länger als nötig. Da kann man das nötig sicher sehr unterschiedlich definieren.
      Meine Situation im Elternhaut klingt sehr ähnlich im Vergleich zu deiner, aber auch ich hatte dann trotz großen Zimmers, Garten und Ruhe am Nachmittag genug. Ohne Vorruhestand der Eltern. Allerdings hätte ich wahrscheinlich auch früher den Entschluss zum Auszug gefasst, wenn einer der beiden berentet worden wäre. Ein bisschen Zeit allein muss dann eben doch sein.

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    2. Ich könnte es auch umformulieren: Ich wohnte auch noch bei meinen Eltern, als ich schon gearbeitet habe und somit genug Geld vorhanden war, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können. Der WG-Typ bin ich einfach nicht, so daß ein Auszug noch während der Ausbildung für mich indiskutabel war.

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  2. Gescheiterte Existenzen hahaha, ich hau mich weg. :D
    Ich glaube du hast du wenig Informatik- oder ausländische Freunde. Gerade bei Nichtdeutschen ist es gar nicht so selten, dass sie noch zuhaus wohnen, aber da ticken die Eltern vielleicht auch noch etwas anders.
    Aber wenn man in Berlin studiert, da ist das schon ganz praktisch auch in Berlin zu wohnen. Andersherum vielleicht nicht ganz ein Muss. :P

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    1. Mhm, alle Informatiker, die ich kenne, mögen größtenteils keine Menschen/ihre Ruhe und sind deshalb früh ausgezogen. Zu den ausländischen Freunden muss ich dir Recht geben: es mangelt mir da an Erfahrung. Ich erinnere mich nur, dass ein französischer Erasmus Student mal erzählte, dass in Paris sehr viele seiner Kommilitonen bei den Eltern wohnen und das nicht ungewöhnlich wäre. Hier empfinde ich das Leben mit der Familie doch als etwas, das spätestens nach dem Abi sehr skeptisch und eher negativ bewertet wird.

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  3. Ich habe noch viel länger, als du zu Hause gewohnt, weil es mit abgebrochenem Studium und schulischer Ausbildung einfach finanziell die beste Lösung war, selbstverständlich haben meine Eltern monatlich ein Kostengeld von mir bekommen, wenn ich schon Strom, Essen, Internet etc. verbrauche, wollte ich mich auch daran beteiligen. Ich fand nichts Schlimmes daran, da ich mich meinen Eltern super verstehe, aber um ehrlich zu sein, habe ich es auch nicht an die große Glocke gehängt.

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    1. Monatliche Überweisungen an die Eltern sind sicher hilfreich dabei, sich nicht so als Nesthäkchen und Parasit zu fühlen, wenn man bei den Eltern wohnt. Trotzdem kann ich sehr gut nachvollziehen, dass du es nicht an die große Glocke hängen wolltest. Ging mir exakt genau so.

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  4. Alles Gute für das Leben in der WG wünsche ich dir :)

    Finde es allerdings schade, dass man sich schämen muss, wenn man zuhause wohnt. Wann ist das denn passiert? Also klar - alles hat irgendwann ein Ende und für immer und ewig sollte man nicht zuhause wohnen - schon allein weil es eine tolle Erfahrung ist, eine eigene Wohnung zu haben, aber schämen geht ein bisserl zu weit.
    Während meiner ersten Studiums-Erfahrung habe ich zuhause gewohnt, während der zweiten ging das distanzmäßig nicht mehr. Ich fand es aber nie schlimm, denn dabei geht es ja auch irgendwie um's Geld. Bei meiner zweiten Erfahrung fand ich das nämlich im Gegenzug ziemlich furchtbar, meinen Eltern mit einem eigenen Zimmer am Studienort auf der Tasche zu sitzen. Die mussten nämlich sowohl für das Studium als auch für das Zimmer blechen - ich habe nämlich leider in der Zeit studiert, als es Studiengebühren gab. Als ich am Ende vom Studium wieder nach Hause gezogen bin, war das dann allerdings nicht mehr so einfach, da ich mich an's Alleineleben gewöhnt hatte. Da ich zu dem Zeitpunkt auch schon mit dem Arbeiten angefangen habe, habe ich auch ziemlich schnell die Notbremse gezogen und eine eigene Wohnung gesucht.

    Ich finde es völlig legitim noch bei den Eltern zu wohnen - vor allem wenn es funktioniert, es ist aber auch ok wenn man sich neu orientiert und sich ein WG Zimmer sucht. Nicht jedes "zuhause wohnen" ist gleich bedeutend mit Hotel Mama. Da denken einige (die das sagen) wohl leider zu kurz, denn auch im Elternhaus gibt es Verpflichtungen und Aufgabenverteilung (ob mehr oder weniger, hängt dann eben auch noch von den Eltern ab). Aber schief angeschaut zu werden, wenn man zuhause wohnt finde ich blöd. Wenn mir diese Person unterkommt, werde ich ihr die Leviten lesen. :)

    Lass es dir gut gehen und genieße auf jeden Fall die Zeit in der WG - das ist eine wirklich schöne Zeit. <3

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    1. Danke für deinen ausführlichen Kommentar!
      Ich finde es auch unangenehm, mich quasi für mein praktisches und harmonisches Leben mit der Familie geschämt zu haben aber es war einfach so. Es war definitiv nicht Hotel Mama - meine Mutti ruft jetzt regelmäßig an und fragt, wie ich denn Gericht XY immer gekocht habe oder ob ich nicht am Wochenende vorbei kommen möchte, um einen Kuchen zu backen und den Garten ein bisschen zu beackern.

      Auch wenn ich das Familienleben inklusive Garten genossen habe, bin ich sehr glücklich, die Möglichkeit zu haben, so ein tolles WG Leben zu erfahren. Letzte Woche waren wir zusammen in der Oper (Studententicketaktionen FTW!) und wandern - du hast absolut Recht, dass das WG Leben eine tolle Zeit ist!

      Liebe Grüße an dich,

      Apfelkern

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  5. Die ewige Diskussion... Ich habe während meiner Ausbildung noch bei meinen Eltern gewohnt, weil es einfach nah genug war. Zum anschließenden Studium bin ich zwar ausgezogen, aber jedes Wochenende zurück in meine Heimatstadt gependelt - meine Tiere waren alle dort sowie meine Großeltern, die Unterstützung im Alltagsleben brauchen. Doch selbst wenn ich diese Punkte erklärt habe, hieß es "Du Muttikiind". Setzen, nix verstanden, danke. Klar fand (und finde) ich es manchmal unpraktisch, nie am Wochenende Zeit für Unternehmungen, Uni-Sachen oder Partys zu haben, aber so ganz generell möchte ich es nicht missen. Der Wechsel vom anstrengenden Uni- und Arbeitsleben in der Hauptstadt unter der Woche zum entspannten Kleinstadtleben mit Garten und Tierkontakt am Wochenende macht einfach zuviel Spaß. Zumal, ich habe eben die Verantwortung für ein paar Tiere übernommen, die kann ich nicht einfach abschieben, nur weil mir nochmal eine berufliche Idee gekommen ist.
    Unterm Strich finde ich es wunderbar, alleine zu wohnen und sich komplett selbst zu organisieren. Aber welcher Student oder Azubi das aus welchen Gründen auch immer noch nicht realisieren kann oder möchte, der soll bitte nicht schief angeschaut werden. Schwierig wird es natürlich bei Leuten, die mit 40 noch bei Mama wohnen und noch nie eine Waschmaschine bedient haben, aber das ist wohl wieder ein anderes Thema. :)

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    1. Oh ja, das Kleinstadtleben! Am stärksten vermisse ich neben meiner Familie den Garten und unseren Kater. Barfuß draußen umher zu laufen, im Beet zu graben und dabei vom fluffigen Kater umschnurrt zu werden ist leider nichts, was das WG Leben in der Großstadt zu bieten hat. Daher bin ich auch froh, keinen weiten Weg zu meinen Eltern zu haben. Und nun mache ich genau wie du Heimatbesuche am Wochenende.

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  6. Hm, ganz ehrlich? Ich finde, 23 ist noch kein Alter, in dem man sich wirklich schämen muss, noch bei den Eltern zu wohnen (die Formulierung "zu Hause" finde ich übrigens immer etwas befremdlich (ich weiß, du hast sie nicht verwendet, aber sehr viele andere tun das) - zu Hause ist doch da, wo ich wohne und nicht bei irgendwem anders). Und trotzdem muss ich zugeben, wenn ich jemanden besuchen gehe, der noch mit seinen Eltern zusammenlebt, finde ich das trotzdem leicht seltsam. Nicht zum schämen seltsam, sondern einfach... Unfreier, dieses Gefühl stellt sich da bei mir ein. Da ist noch eine andere "Autorität" (auch wenn sie sich nicht aktiv bemerkbar macht). Das stört dann schon etwas. Und ich würde dort vermutlich nicht so oft ein und aus gehen wie bei jemandem, der "sein eigener Herr" ist.
    Trotzdem, wie gesagt, ist das für mich kein Grund zur Scham. Ich hatte selbst ein sehr gutes Verhältnis insbesondere zu meiner Mutter und weiß, wie locker es sein kann, mit den Eltern zusammenzuwohnen. Und dass es nicht automatisch mit Unmündigkeit zu tun haben muss.
    Aber diese Nachteile, die du erwähnst, die gibt es eben auch. Und hey, ist es nicht fantastisch, "auf eigenen Beinen" zu stehen? Ich fand (und finde das auch immer noch zwischendurch) das ein schönes Gefühl. Unabhängigkeit halt. Auch wenn die natürlich auch so ihre Kehrseiten hat, klar.
    Darum: Glückwunsch zum neuen Lebensabschnitt und viel Spaß mit dem WG-Leben.
    Peinlich wird es erst ab einem gewissen Alter, das ich jetzt nicht genau in Zahlen angeben kann, oder wenn das Kind noch total in einer Kindrolle und sehr unselbstständig ist/gehalten wird.

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