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Montag, 13. August 2012

Existieren aus Gewohnheit

Was ist eigentlich in fünfzig Jahren? Die Frage kam mir kürzlich in den Kopf als ich meinen Opa für einige Tage besuchte.

Obwohl sein Alter sich schon langsam in Richtung der achtzig bewegt, ist er völlig selbstständig: kocht, wäscht, fährt Auto, kauft alles Nötige ein, geht zum Arzt, beackert seinen riesigen Garten, koordiniert seine Termine. Mit der komischen modernen Technik wie Mobiltelefonen (erreichbar täglich von 20.00-21.00 Uhr) oder Computern (Was haben alle immer mit diesem Internet - das haben wir früher auch nicht gebraucht!) will er nichts zu tun haben, doch er kommt auch so klar. Das macht es für uns als seine Familie einfach.

Aber wenn man genauer hinsieht muss man feststellen, dass es doch nicht so schön und reibungslos ist, wie es scheint. Er vergisst immer öfter, seine Pillen zu nehmen. Er sieht nicht mehr so gut und bemerkt so weder beim Abwaschen die Saucenreste im Topf noch dass die selbsteingelegte Gurke, die er sich gerade in den Mund schiebt, eigentlich schon schimmelt. Er hat Rückenschmerzen, läuft sichtbar langsamer als er es vor einem Jahr tat. Seine Freunde werden Jahr für Jahr weniger: sie fallen dem Zahn der Zeit zum Opfer. Er kann nicht mehr gut schlafen und steht ohne Zwang dazu schon um fünf Uhr auf. Ruhelosigkeit. Und warum fällt ihm nicht eigentlich auf, dass dringend wieder einmal Staub gewischt werden müsste?

Ich habe das Gefühl, mit der Zeit verstärken sich wesentliche Charakterzüge. Sowohl die guten als auch die schlechten. Er ist gutmütiger gegenüber anderen und gleichzeitig strenger gegenüber sich selbst. Er geizt an allem, das für ihn selbst ist. Seiner Meinung nach lohnt es eh nicht mehr in ihn zu investieren. Schließlich wäre er ja schon alt und damit abgeschrieben.

Diese Denkweise schockierte mich. Wie kann er das nur sagen?
Ich wies seine Aussage zurück und betonte, dass wir ihn als Familie bräuchten; dass er als geliebtes Familienmitglied einfach dazugehört, dass wir alle seine Anekdoten von früher lieben und wir auch viel von ihm lernen könnten.
Wirklich überzeugt schien er nicht.

Auch wenn unser Gespräch an dieser Stelle beendet war, grübelte ich weiter.
Welche Aufgabe hat er eigentlich noch? Er ist im Ruhestand und erfüllt keinen Beruf mehr, Mitglied eines Vereines ist er nicht und auch sonst hat er keine wirklichen Verpflichtungen mehr. Um ganz ehrlich zu sein: seine Kinder sind selbstständig geworden und überleben auch ohne ihn. Rein objektiv betrachtet ist niemand auf seine Hilfe angewiesen.
Der Mensch braucht eine Aufgabe; einen Sinn im Leben - etwas, nach dem er streben kann. Fehlt das, ergibt es auch keinen Sinn, weiter zu leben. Man existiert einfach nur noch um zu existieren. Kein Wunder, dass man eine Sinnlosigkeit und Leere verspürt, wenn das der Fall ist.

Man hofft, dass der Fall der plötzlichen Sinnlosigkeit der eigenen Existenz nie eintritt. Oder dass man es nicht bemerkt, denn solange man wie der Hamster im Laufrad rennt ohne weiter zu kommen und das nicht bemerkt ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich wird die Leere erst bedrückend, wenn sie einem bewusst wird. Ich bin froh, sagen zu können, im Moment dieses Gefühl überhaupt nicht zu haben - es gibt Menschen und Dinge, wegen denen ich jeden Tag aufstehen will.

Das hilft meinem Großvater auch nicht. Was kann ich als Enkelin schon tun? Klar könnte ich ihn noch öfter besuchen und so die Einsamkeit mildern, doch eine Aufgabe gibt ihm das noch immer nicht. Ich könnte bei diesen häufigeren Besuchen in seinem Haus sauber machen, waschen und für ihn kochen.
Und warum Konjunktiv? Weil ich es nicht regelmäßig tue. Natürlich besuche ich ihn so wie er uns besucht, doch ich kann meiner Meinung nach nicht vier Tage in der Woche zu ihm fahren und mich um ihn kümmern als wäre ich seine Pflegerin.
Trotz der Familienbande und davon unabhängigen Zuneigung zu ihm: ich habe ein eigenes Leben. Und noch mehr Verwandte, Freunde und Mitmenschen als ihn, die meine Aufmerksamkeit und Zeit benötigen.
Ist das jetzt herzlos? Darf man in solchen Dingen Prioritäten setzen? Ich weiß es nicht.

Die Idee, ihm einen professionellen Pfleger zu stellen kam auch schon auf, doch er würde alles ablehnen, was seine Selbstständigkeit infrage stellt. Auch das Leben im Heim wäre keine Option für ihn. Niemals. Er hat zu lange für Haus, Garten und Boot gearbeitet, um all das aufzugeben.
Ich würde auch nicht im Heim wohnen wollen. Einsamkeit in der Gruppe, Anonymität und das Nötigste an Pflege. Wahrscheinlich sind das alles nur Vorurteile und doch sind sie tief genug in mir verankert, um nicht ins Heim zu wollen. Zwar betrifft mich selbst das Problem noch nicht, aber man kann schon einmal darüber nachdenken statt nur in den Tag hinein zu leben.

Wenn ich nicht ins Heim wollen würde könnte ich auch niemand dorthin schicken ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Dieses schlechte Gewissen habe ich allerdings wie beschrieben auch schon so, wenn ich an die routinierte Lebensleere meines Großvaters denke.

Vielleicht ist es ja auch aus seiner Perspektive gar nicht so wie ich es wahrnehme. Es könnte sein, dass er trotzdem glücklich mit seinem Leben ist: mit seinem Garten, den Kochsendungen und den Besuchen bei uns. Und doch wäre ich - wenn ich das, was ich als sein Leben wahrnehme- mit anderen und mir selbst vergleiche, so nicht glücklich.

Allein vom körperlichen ausgehend wird er noch einige Jahre vor sich haben. Er hat bloß keinen wirklichen Grund mehr dazu - er existiert aus Gewohnheit einfach weiter.
Aber wie lange kann man einfach nur weiterleben ohne einen Sinn darin zu sehen? Vielleicht stumpft man zum Selbstschutz ab. Vielleicht findet man einen Sinn. Oder man selbst beziehungsweise der Körper lässt das Weiterleben sein.

Ich hoffe, es wird nicht Variante drei sein, die eintritt. Ist diese Hoffnung egoistisch?
Anscheinend will ich wohl nur nicht das gewohnte Wissen, dass er da ist, umschreiben müssen.

Apfelkern

8 Kommentare:

  1. Viele alte oder behinderte Menschen sehen sich als eine Last. Das hat sicherlich auch einen großen Teil mit der Selbständigkeit (SELBständig, nicht SELBSTständig!) desjenigen zu tun, die vielleicht nicht mehr existiert. Habe schon oft gehört, dass alte Menschen gar keine Lust mehr aufs Leben haben. Auch verständlich, wenn man mit seiner körperlichen Verfassung kaum mehr was machen kann und alles schmerzt.

    Dein Großvater scheint aber gut zu tun zu haben. So ein Garten macht ja viel Arbeit, aber das ist ja nur zu seinem Vorteil.

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    1. Selbstständigkeit ist sehr wichtig, denn ständige Abhängigkeit führt einem regelmäßig vor Augen, dass man allein nicht existieren könnte. Das deprimiert. Sicher kann man sich auch daran gewöhnen, doch will man das? Eher nicht.

      Viel Arbeit hat er mit dem Garten sicherlich. Aber es beschäftigt nur die Hände und nicht den Geist. Und der kann weiter einsam und traurig sein. Zudem muss ich immer an den Winter denken, in dem ihm der Garten keine Zuflucht ist.

      Und da habe ich genau die Befürchtung, die du in dem Kommentar schriebst: ihm könnte einfach die lust aufs Leben verloren gehen.

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  2. Die Erfahrung, die ich mit meinen Großeltern und anderen älteren Menschen aus meiner sozialen Umgebung gemacht habe, sind recht ähnlich. Sie fangen langsam an, Dinge zu verschenken oder wegzugeben, da sie sie nie wieder brauchen werden. Sie "stauben ein", in dem sie ihren routinierten Tagesablauf immer weiter perfektionieren.
    Aber auch wenn es ihnen nicht mehr besonders gut geht, wollen sie meistens noch für ihre Kinder, Enkel etc. da sein.
    Ich finde, dass es nicht unbedingt schlecht ist, wenn man seinem eigenen Tod gefasst ins Auge sieht und sich dementsprechend schon einmal langsam darauf einstellt. Natürlich nur, solange dieses Verhalten nicht in vollkommene Resignation übergeht. Und wenn dies der Fall ist, sehe ich es als Pflicht der Familie an, der Person zur Hilfe zu kommen, nicht unbedingt als Pflegepersonal, sondern eher als "Sinnstifter". Trotzdem wäre es auch nicht richtig, sein eigenes Leben aufzugeben, um diesen Personen zu helfen.
    Irgendwie ist das Gewissen beim Umgang mit älteren Personen nur sehr schwer zufrieden zu stellen. Ich finde es sehr schwer, da das richtige Maß zu halten.
    Vielleicht sollte ich auch einmal mein Verhalten gegenüber meinem älteren Umfeld überdenken.

    Nachdenkliche Grüße,
    Pearl.

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  3. Ehrlich, ich fühle mich angeregt einen ganzen Roman unter diesen Post zu schreiben. Meine Oma betreffend, mich betreffend, und vor allem im Bezug auf diese Leere, und das verzweifelte suchen eines Sinns(das würde zu weit führen und ich könnte mich gleich auf deine (leder)couch legen).
    Letztlich kann ich nur dazu sagen, dass es deinem Opa gut geht. Deiner Beschreibung nach hat er gut zu tun, auch wenn es dir nicht viel erscheint.^^ Ich hatte mir das Rentnerdasein immer schön vorgestellt: Man kann den ganzen Tag lesen, sich in Geschichten verlieren, Hat Zeit die Welt bewusst wahrzunehmen,... nur weiß ich nicht ob ich dann immernoch interesse an Büchern haben werde. Vielleicht erscheint mir lesen dann auch sinnlos, wie meiner 85jährigen Oma. Und allein der Gedanke macht mich unendlich traurig.

    Aber als Enkelin kann man nicht viel sagen. Auch wenn man 20+ ist, für die eigenen Großeltern ist und bleibt man das Enkelkind, das eben nicht weiß, wie "das" ist.

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    1. Es freut mich sehr zu lesen, dass mein Post dich zum Nachdenken angeregt hat. Ich würde diesen Roman zwar auch gern in Auszügen lesen, doch wie gesagt finde ich es bereits toll, dass du ins Grübeln gekommen bist. Eine Ledercouch habe ich allerdings nicht zu bieten. Wie wäre es mit der Schaukel im Garten?

      Das Rentnerdasein male ich mir eigentlich auch fabelhaft aus: mit meinem Partner als kauzig-vertrautes Paärchen in einem Haus leben, gärtnern, viel kochen und backen, stricken, lesen, einkochen - glücklich sein. Aber trotz der Sorgen, dass es alles anders kommen kann, möchte ich diese Vorstellung nicht ganz aufgeben.
      Vielleicht hat mein Ops zu tun, doch ob er wirklich glücklich ist, weiß ich nicht. Die von dir angesprochene unendliche Traurigkeit kommt da ins Spiel.

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  4. Traurig wird es irgendwann immer. Aber so anstrengend es scheint, je mehr du jetzt tust, desto weniger schlecht ist dein Gewissen, wenn es dafür zu spät ist.

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    1. Völlig richtig! Bereuen kann man viel, doch man muss es nicht soweit kommen. Sagt sich nur so viel leichter, als es umzusetzen ist

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    2. Absolut. Vor allem, wenn die Unbeschwertheit fehlt, weil man jedes Mal mehr daran erinnert wird, daß man die Zeit nicht anhalten kann. So ein Gefühl der Verpflichtung kann erdrückend sein und birgt die Gefahr, sich dem zu entziehen. Ich fühle mich meinem Großvater gegenüber auch oft hilflos, weil ich nicht weiß, wie ich die Leere in den Gesprächen füllen soll. Man kann nicht immer wiederholen. Man kann nicht immer Verständnis haben, für die mangelnde Gewohnheit sich auszudrücken, oder die Möglichkeiten, das Gesagte zu verarbeiten. Man kann sich nicht immer mit der gegebenen Perspektive abfinden. Man will nicht bevormunden, auch wenn man weiß, daß man es besser weiß. Und all dies wühlt mindestens genauso auf, wie das schlechte Gefühl, zu wenig dazusein. Aber hat so ein Opa überhaupt so große Ansprüche?

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