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Donnerstag, 2. Februar 2012

Erinnerungsfundus

Gestern war ich wieder einmal bei meinem Opa.
Er lebt seit nun fast zwei Jahren allein und fühlt sich deshalb am Abend oft einsam. Während des Tages sucht er sich immer eine Beschäftigung: er beackert seinen Garten mit dem Rasenmähertraktor, für den er einen Pflug geschmiedet hat, intensiv und versorgt uns so mit Tonnen von Zucchini, Tomaten, Gurken, Pflaumen, Birnen, Äpfeln, Kirschen, Quitten, Bohnen, Radieschen, Salat, Petersilie (beutelweise!) und insbesondere Riesenkürbissen, er kocht diverse Gerichte aus den angebauten Sachen, macht Wein, kauft sich spontan ein halbes Schwein und macht daraus Schinken, Leberwurst und Sülze oder näht eine Plane für sein Boot, auf das er sich im Sommer zur Erholung zurückzieht. Er hat gelernt, seine Wäsche selbst zu waschen und zu bügeln, er schreibt Einkaufszettel und kann nun auch Socken stopfen. Allein seine Pillen zu nehmen vergisst er oft.
Ich liebe es, mit ihm etwas zu bauen und er genießt es auch, denn dadurch fühlt er sich gebraucht. Wenn wir Knöpfe sägen oder Holzkammbaupläne schmieden hat das Leben einen Sinn für ihn.

An seinem Beispiel wurde mir erst klar, wie sehr der Mensch nach einer Aufgabe sucht. Das Problem trat bei mir noch nicht auf, da ich durch die Schule und Freunde immer beschäftigt war; eher unter Zeitdruck litt. Doch er hat unglaublich viel Zeit und abgesehen von ein paar Arztterminen keine Verpflichtungen. Und so probiert er sich in allem aus, stürzt sich in Arbeit, um einen Sinn in seinem Leben zu sehen. Er pflegt zu sagen, wir müssten ihm nichts zu Weihnachten, zum Geburtstag oder Ostern schenken, da er ja eh bald stürbe. Das sagt er schon seit mindestens 20 Jahren.
Dennoch glaubt er, er sei abgeschrieben.

Um ihm zu zeigen, dass das Gegenteil der Wahrheit entspricht, laden wir ihn oft ein.

Nun war ich einmal bei ihm, habe in seinem Schlafzimmer Staub gewischt und alle Etagen gesaugt. Aber ein Hauptgrund für den Besuch war eigentlich, einige seiner Eerinnerungen zu notieren.
Geboren 1935 hat er viele Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkrieges und so weit ich mich zurückerinnern kann, erzählte er immer Geschichten aus seiner Kindheit.
Gestern habe ich ihn gebeten, mir mehr zu erzählen. Ich hatte meinen Laptop dabei und habe mitgeschrieben, um die Erinnerungen zu bewahren. Dabei fiel mir auf, dass er mir vorher immer nur die lustigen, lebensfrohen und glücklichen Erinnerungen erzählt hat. Die legendäre Geschichte von linken Holzschuh, sein Streich, wie er mit einer Egge Algen aus einem Teich fischen wollte und sie dabei versenkt hat oder wie ein falsch gefärbter Wollpullover ihm blaue Haut beschert hat. Doch seine dramatischen Momente hatte er verschwiegen. Er lebte in Ostpreußen, dem heutigen Polen, und erlebte den Einmarsch der Russen. Es war regelrecht erschütternd.

Warum hatte ich davon jahrelang nichts geahnt? Man sieht sich Dokumentationen über die Zeit des Zweiten Weltkrieges an und denkt gar nicht daran, dass ein Zeuge dieser Zeit direkt vor der eigenen Nase sitzt.

Ich glaube, das Problem ist, dass wir nicht genug miteinander reden. Reden meint nicht, zu fragen, wo die Küchentücher liegen, sondern ein Gespräch, bei dem man Erinnerungen und Gefühle teilt, bei dem man sich wirklich für den anderen interessiert und nicht nur durch ihn etwas erreichen will.
Nun kam mir der Gedanke, auch die Oma mütterlicherseits zu befragen. Genauso werden meine Eltern beeindruckende Erinnerungen an die DDR Zeit haben, die ich bisher nur oberflächlich angekratzt habe. Wir haben darüber gesprochen, sind aber meist sehr allgemein geblieben.

Eigentlich ist das doch peinlich, ja erschreckend, sich nie so eingehend mit der eigenen Familie beschäftigt zu haben, wenn man sein Herz Freunden schon ausgeschüttet hat. Irgendwann wird man nicht mehr mit ihnen über ihre Erinnerungen sprechen können.
Natürlich gibt es unglaublich viele Menschen, die Erinnerungen aus der selben Zeit haben, sie alle zu erfassen würde aber viel zu aufwendig für mich als einzelne Person sein. Und das Hauptinteresse lieg auf der Familiengeschichte.

Da es die eigene Familie ist, hat man doch ein spezielles Interesse, besonders, da man später seinen Kindern auch etwas über ihre Vorfahren erzählen können möchte. Wir alle wollen unsere Wurzeln kennen, ich denke, das ist ein ganz normales Bedürfnis.

Auch Opa hat es genossen. Ihm hat es gut getan, die Erinnerungen zu teilen und er überwand die anfängliche Skepsis und wurde immer begeisterter. Ich kann mir vorstellen, warum: unter anderem niemand möchte vergessen werden und solche Gespräche erleichtern die Seele. Es ist eine Art Preventivtherapie.
Ergebnis sind sechs Seiten Text. Wir waren überrascht von dieser Menge vor allem, da noch vieles ungesagt blieb.

Apfelkern

5 Kommentare:

  1. Ich bedaure sehr, dass ich zu spät angefangen habe mich für die Geschichte meiner Großeltern zu interessieren. Für "ihre" Geschichte, und nicht das, was mir meine Verwandten über sie erzählen. Nachdem sie nun seit knapp über 2 Jahren tot sind, vermisse ich sie mit jedem Tag mehr und wünschte, ich hätte mehr mit ihnen geredet..

    Daher kann ich es nur begrüßen, dass du klüger bist als ich damals war.. Ich finde, wir müssen versuchen, unsere Lieben kennen, wenn wir sie uns auch nach ihrer Zeit bewahren wollen und ihnen zeigen, dass wir ihre Gesellschaft und ihr Wesen, ihre Geschichte, schätzen, egal wie alt sie sind oder welche kleinen oder größeren Macken sie manchmal haben.

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  2. Ich habe gerade den unglaublichen Drang, meine Oma zu besuchen und sie erzählen zu lassen. Die Idee ist so wunderbar, ich nehme es mir jetzt wirklich vor.

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  3. Die Geschichten meiner Großeltern über ihre Flucht aus Ostpreußen/Oberschlesien und die anschließenden Jahre im zerstörten Deutschland sind wahrscheinlich "etwas" belebter als der Geschichtsunterricht. Es lohnt sich, mit Zeitzeugen zu reden, weil meine Generation die letzte sein wird, die sie noch befragen kann. Wir haben eigentlich ein unglaubliches Glück!

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  4. Ohne in der Öffentlichkeit zu viele Details zu erzählen: Du solltest solche Gespräche so oft wie möglich mit ihm führen. Es ist ungemein wichtig für euch beide.

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  5. wunderbar dass du das machst!
    bei mir sind mittlerweile alle großeltern verschieden, nur mit einem opa hatte ich noch etwas erwachsenere gespräche. und wir haben auch erst in dem jahr vor seinem tod einen draht zueinander gefunden (hab mich zu ihm verzogen um der nervigen mutter zu entfliehen^^) ich "durfte" vor der schule kaffeekamillenteegemisch trinken und geschichten hören bei denen ich rot wurde (von wegen die waren früher anständig^^) ich ertappe mich dabei in einen erzählrausch zu verfallen *brems*

    wunderbare idee ...

    lg

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