Donnerstag, 25. Juni 2015

Maulwurfsleben

Wir sind eine große Menge an Menschen mit einer Gemeinsamkeit. Eigentlich erkennt man uns auf den ersten Blick aber viele von uns tarnen das entscheidende Erkennungsmerkmal geschickt. Das klingt jetzt fast schon ein bisschen nach einer Sekte, ist es aber ganz und gar nicht. Denn hier hat sich niemand freiwillig dafür entschieden, dem Club beizutreten. Ich spreche von Fehlsichtigkeit.

Im Alltag bemerkt man sofort, wenn sein Gegenüber Brillenträger ist, doch unter Bloggern fällt das nicht unbedingt auf, wenn man nur die Texte liest ohne Bilder zu sehen. Und deshalb wollte ich mich hier einerseits als bekennender Brillenträger outen und andererseits über das Leben mit Brille schreiben.

Meine Eltern sind beide extrem kurzsichtig und auch ich bin davon nicht verschon geblieben. Inzwischen bin ich beidseitig schon über 5 negative Dioptrien hinaus und habe einseitig schon  -6,25 Dioptrien und tendenziell werden das nicht weniger.
Aufgefallen ist es schon in der Grundschule, als ich beim Mathetest die Aufgaben zwar richtig löste aber ganz andere Aufgaben hatte als der Rest der Klasse. Ich konnte als hochgewachsenes Kind, das deshalb hinten im Klassenraum sitzen musste, die Zahlen an der Tafel nicht mehr lesen und habe offenbar kreativ ergänzt, damit wieder eine Aufgabe draus wurde.
Also ging es zum Augenarzt und ich bekam eine Brille, die ich an mir sehr merkwürdig fand und deshalb auch nur im "Notfall" aufsetzte. Soll heißen, wenn ich nicht gerade etwas an der Tafel lesen musste, sah man mich nie mit Brille. Es trug auch definitiv seinen Teil dazu bei, dass die anderen Kinder mir erzählten, es sähe aus, als hätte ich die Brille meines Vaters auf der Nase. Und das obwohl sie meinen Vater nicht kannten. Ich schämte mich ungeachtet der fehlenden Logik hinter dieser Beleidigung sehr für mein Nasenfahrrad.
Schließlich wurde die Kurzsichtigkeit immer stärker, sodass ich dann doch Vollzeit Brillenträger wurde - aber erst, nachdem ich von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt war - schließlich war das ein Neuanfang und damit meine Chance so zu tun, als wäre die Brille in meinem Gesicht etwas ganz normales. In den ersten Wochen als Vollzeitbrillenträger war ich extrem fasziniert davon, wie detailreich die Welt eigentlich ist. Bäume sind nicht nur von einem undefinierten grünen Schein umgeben - nein, es sind ja einzelne Blätter! Ob Galileo Mystery schon davon weiß?!
Ohne Brille war alles zu einem ineinander verschwimmenden Farbmeer geworden und ich hatte mich einfach daran gewöhnt. Mit Brille konnte ich nun auch endlich wieder in der Bahn fremde Bücher mitlesen.

Inzwischen mag ich mich mit Brille sogar lieber als ohne. Ungeschminkt, Augenringe? Brille auf und gut - die Brille überdeckt perfekt die Ränder der Augenringe und versteckt sie so und gibt dem Gesicht gleichzeitig irgendwie einen Rahmen, eine Dekoration, die einen hergerichtet aussehen lässt. Und das ist ein Effekt, den man innerhalb von zwei Sekunden durchs Aufsetzen der Brille erreicht. Besser sehen kann ich damit natürlich auch.

Soweit so gut. Die optischen Aspekte können Menschen ohne Brille definitiv nachvollziehen. Dann wird es Zeit, mal aus dem Nähkästchen zu plaudern.
Wisst ihr eigentlich, wie anstrengend Regen ist? Man wird nass und gleichzeitig halb blind vor lauter Tropfen auf der Brille. Macht sich am besten, wenn man draußen mit dem Rad unterwegs ist und den Weg gerade eh nicht findet. Am liebsten hätte ich Scheibenwischer für solche Tage. Oder auch diesen Zauberspruch, den Hermine bei einem Quidditch Spiel auf Harrys Brille legt und so den darauf zuströmenden Regen umleitet.
Wo wir schon bei nassen Dingen sind: im Schwimmbad ist eine Brille auch nicht unbedingt praktisch. Mit ist alles gut aber sobald man selbst schwimmen und tauchen will, wird die Brille abgesetzt und man ist hilflos. Wer von den ganzen Menschen ist jetzt nochmal die Freundin, mit der ich hier bin? Größe, Haarfarbe und Farbe der Badekleidung sind die einzigen Hinweise darauf, ob es denn nun die gesuchte Person ist oder nicht - denn sobald der andere einen Meter von mir entfernt ist, verschwimmt das Gesicht nur noch zu einem hautfarbenen Klecks. Das ist dann der Moment, in dem man sich selbst dafür verflucht, dem Freund eine dunkelblaue Badehose geschenkt zu haben. Mit einer neongrünen hätte man ihn immerhin sofort wiederfinden können.
Nett ist es übrigens auch der Moment, wenn man in der Dusche steht, sich unbewusst wundert, weshalb alles so wenig verschwommen aussieht und dann sobald das Wasser läuft feststellt, dass man vergessen hat, die Brille vorm Duschen abzusetzen.

Beim Sport ist so eine Brille auch nicht ideal, denn jede Form der körperlichen Ertüchtigung wird von der Angst begleitet, dabei die Brille zu zerstören. Entweder, jemand wirft mir etwas dagegen oder sie fällt aus der Bewegung heraus von allein runter (was bei Burpees zum Beispiel nach spätestens zehn Stück davon immer passiert), zerbricht dabei oder wird von einem Fuß zermalmt. Und anschließend ist man orientierungslos und völlig verloren in dieser Welt, in der man ohne auf 15cm Nähe heran zu kriechen, nichts mehr erkennen oder lesen kann.
Sowieso ist die Angst, plötzlich ohne Brille da zu stehen unterschwellig immer an Bord, wenn man so sehr fehlsichtig ist.  Ich erinnere mich noch gut an den Sehtest, bei dem ich sagen sollte, an welcher Seite die Öffnung des Rings ist und sie erst einmal mit dem größten Ring des Sets begonnen hatten. Öffnung von welchem Ring? Ich sah nur so einen grauen matschigen Fleck auf dem hellen Untergrund. Da überrascht es nicht, dass man immer, wenn man von einer Brücke oder einer höheren Etage nach unten sieht, die Brille unterbewusst festhält.

Man lernt, mit einer Brille zu leben. Auch wenn sie beim Küssen im Weg ist oder Mascara auftragen mit Brille nicht geht und man ohne nicht immer so zielsicher das Zeug nur da verteilt, wo es eigentlich hin sollte. Aber alles ist besser, als ohne eine Sehhilfe umher irren zu müssen. Und gut ausgesucht können Brillen eben auch richtig gut aussehen, einem ins Gesicht fliegende Insekten und den Speichel der Personen mit feuchter Aussprache aus den Augen halten. Ich spreche da aus Erfahrung.
Kontaktlinsen sind natürlich eine Option, doch ich stelle mich nach Jahren des vereinzelten Gebrauchs zu Konzerten oder Sportveranstaltungen noch immer dämlich an, was das Einsetzen angeht. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie meinen Augen nicht gut tun, denn mit Brille sind sie am Ende des Tages nicht ansatzweise so ermüdet und gereizt wie mit Kontaktlinsen. Lasern wäre eine Möglichkeit aber offen gesagt stelle ich mir die Prozedur sehr unangenehm und eklig vor. Ich meine - iiiih, Werzeuge und Hände an und in meinen Augen!
Abgesehen davon, finde ich meinen eigenen Anblick ohne Brille extrem seltsam. Natürlich wäre es großartig, nicht fehlsichtig zu sein, doch ich denke, dass es noch viel einschneidendere Einschränkungen gibt.

Seid ihr auch Brillenträger oder tarnt ihr eure Fehlsichtigkeit mit Kontaktlinsen und lasst die Brillenträger denken, sie wären die einzigen Maulwürfe? Und wenn ihr ohne Sehhilfe alles klar wahr nehmt, seid rücksichtsvoll und deprimiert die anderen in den Kommentaren nicht zu sehr.

ApfelBrillenkern

6 Kommentare:

  1. Es ist eigentlich erstaunlich wieviele Leute heimlich Brillenträger sind. Ich brauche auch eine, aber seit einigen Jahren bin ich auf Kotaktlinsen umgestiegen.(Sport als Anfangsgrund, dann kam das Eitelkeitsargument dazu) Zuhaus trage ich aber auch mal eine Brille. Inzwischen sind Brillen ja ein modisches Accessoire geworden. Man denke da nur an die ganzen Nerdbrillen.

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    1. Dass du ein heimlicher Brillenträger (den Ausdruck hätte ich gern beim Schreiben des Texts gehabt; er trifft es richtig gut!) bist, wusste ich schon. Aber im Alltag sind es doch überraschend viele, die es auch heimlich sind.
      Wenn die ewigen Kontaktlinsenträger oder am besten Menschen ohne Fehlsichtigkeit dann aus modischen Gründen mit Brille auftauchen, fühle ich mich auch ein bisschen verarscht. Das ist keine Dekoration, das ist ein Hilfsmittel, ohne das ich im Alltag nicht auskäme. Mein notwendiger Blindenhund und kein Spaß. Jawoll. Wobei man schon sagen muss, dass Kontaktlinsen in manchen Situationen praktischer sind.

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  2. Puhh... ich kann etwa 80% deines Textes direkt unterschreiben. Bei mir ging das so richtig in der 7ten Klasse los, als vermehrt der Polylux zum einsatz kam und ich einfach kaum mehr was erkennen konnte. Die Brille, die ich dann bekam setzte ich auch nur auf wenn ich etwas lesen wollte; damals fand ich mich komisch mit Brille, wenn ich in den Spiegel schaute. Danach gings es echt schnell bergab. Jedes Jahr wurde es schlimmer und um Kontaktlinsen bin ich spätestens in der 11ten nicht mehr gekommen, weil ich sonst den Sportunterricht wie ein geköpftes Huhn hätte beschreiten müssen. Und dann kam der Punkt wo die Gestelle schöner wurden und es Mode wurde Brille zu tragen, weils ja intelligenter aussieht und kompetenter und stylischer sowieso.
    Heutzutage können sicher nur wenige nachwollziehen wie ätzend Brillen damals waren (auch wenn die Horngestelle von Mutti und Vati jetzt gern wiederbelebt werden). Die Gestelle waren unschön geform und schwer noch dazu. Ich weiß noch dass ich selbst von den 10Minuten aufsetzen manchmal Druckstellen an der Nase hatte. :/

    Sprung nach von bis 2010 hatte ich 6,25 bzw 6,75 auf beiden Augen und konnte mir ein Leben ohne Gläser gar nicht vorstellen. Geschminkt habe ich mich nicht (wenn man Abdeckstift nicht zählt) und ohne Brille war ich quasi hilflos (wie mir ein tragischer Achterbahnbrillenverlust vor Augen *hehe* führte).

    Letztlich bereue ich nicht mir die Augen lasern haben zu lassen - und keine Sorge. Zumindest bei der PRK Methode berührt keine Hand und nur ein Instrumen deine Hornhaut. ;) Und nach >5min ist alles vorbei. Geht echt super schnell.

    Ganz los bin ich das Nasenrad aber trotzdem nicht. Ohne die Brille hab ich erst gemerkt dass ich Stabsichtig bin. xD Sobald die Dämmerung einsetzt traue ich mich ihne gar nicht hinters Steuer. Beim Laufen ist das was anderes. Da frage ich mich manchmal wie langweilig das für andere aussehen muss, die statt der Sterne, wie ich sie sehe, nur einfache helle Punkte im Himmel sehen.

    bebrillte Grüße~

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    1. Den schnellen Abstieg in die Halbblindheit habe ich auch so erlebt. Den Sportunterricht habe ich zuerst ohne Brille bestritten (immer schwer bemüht, den neongelben Federball zu erobern, da ich die weißen noch weniger sah) und sie dann einfach aufgelassen. Kontaktlinsen hatte ich das erste mal zum Skifahren, da die normale Brille nicht unter die Skibrille passte. So richtig schlimme ostige Brillengestelle hatte ich zum Glück nie aber aus Erzählungen meiner Eltern kann ich das Elend nachvollziehen.

      Warum du dich wegen der Brille nicht geschminkt hast, kann ich nicht ganz verstehen. Klar, man muss dafür richtig nah an den Spiegel ran kriechen und aufpassen, dass man mit den Pinseln nicht den Spiegel rammt aber sonst ist das kein Problem. Erfahrungswert einer sich schminkenden Brillenträgerin mit -6,25 und -5,25 Dioptrien.

      Hach, das klingt alles schön und gut. Aber irgendwie finde ich das Lasern gruselig. Augen sind schon irgendwie ekelhaft und nur zum Ansehen hübsch.

      Oh, gegen Stabsichtigkeit hilft das Lasern nicht? Ich habe einseitig zusätzlich auch noch eine Hornhautverkrümmung. Ach, ist schon alles doof als Maulwurf. Aber man hat auch automatisch seine Gang von Fehlsichtigen, mit denen man sich auf Anhieb verbunden fühlt.

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  3. Die selben Erfahrungen habe ich auch so ähnlich gemacht. In der 7. Klasse im Musikzimmer ganz hinten gesessen und plötzlich war die Tafel unscharf, also zum Augenarzt und Brille verdonnert bekommen, die ich auch nur dann getragen habe, wenn ich an der Tafel was lesen musste. Aber irgendwann begann die Talfahrt und die Brille musste immer getragen werden. Heute kann ich mir mein Gesicht ohne sie gar nicht mehr vorstellen und finde mein Gesicht ganz komisch, wenn da nichts auf der Nase sitzt.

    An Kontaktlinsen habe ich mich auch schon versucht, aber da ich ausgerechnet schon fast zu trockene Augen habe, die auch noch mit Astigmatismus gestraft sind, macht es das Tragen nicht immer einfach.

    Allerdings ist meine Kurzsichtigkeit in den letzten 5 Jahren bei um die -4,00 stagniert und ich hoffe, das bleibt auch noch eine Weile so. :)

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    1. Unglaublich, wie schrecklich man sich am Anfang mit Brille findet und wie nackt das eigene Gesicht inzwischen ohne aussieht!
      Kontaktlinsen fühlen sich einfach "unbequem" an. Nicht in dem Sinne, dass sie Schmerzen verursachen aber die Augen ermüden deutlich schneller und werden trocken.

      Hach ja, meine Sehstärke ist gerade wieder schlechter geworden. Und Mutti hat sich gerade -9,0 Dioptrien beim Augenarzt diagnostizieren lassen. Unscharfe Aussichten bei der genetischen Vorbelastung, würde ich sagen. Ich drücke dir die Daumen, dass deine Dioptrienzahl konstant bleibt!

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