Dienstag, 21. August 2012

Erdrückende Hilflosigkeit

Der auffälligste Patient, den ich während meines Praktikums in einem Klinikum bisher kennen gelernt habe, ist ein älterer Herr mit einer das Hirn betreffenden Erkrankung. Durch diesen beeinflusst, scheint sich seine Persönlichkeit verändert zu haben. Er hat Stimmungsschwankungen zwischen Lachen und Weinen, rennt ziellos umher, spricht unzusammenhängendes Zeug, kann sich nicht selbst versorgen. Manchmal wird er panisch oder aggressiv und im nächsten Moment schon lacht er glucksend.

Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Seine Reaktionen sind nicht logisch - sie sind unberechenbar. Die meisten Krankenschwestern hören ihm einfach nicht mehr zu, behandeln ihn wie ein kleines Kind, machen alles, was notwendig ist und stellen ihn dann ruhig. Ruhig gestellt wird er mit einer bunten Mischung aus diversen Sedativa und Neuroleptika. Diese haben seinen Allgemeinzustand laut der Schwestern nicht unbedingt verbessert, sondern die Verwirrung noch gesteigert. Er ist ein wenig wie ein Kind. Degeneration.

Mehrfach habe ich ihm bei der Morgenrunde diese angeordneten Medikamente gebracht, von denen ich anzweifle, ob sie ihm alle gut tun. Schmerzmittel und besagte andere haben neben Wirkungen und Nebenwirkungen sicher auch Wechselwirkungen untereinander und so kann das angstauflösende und beruhigende Mittel vielleicht auch einmal den gegenteiligen Effekt erzielen.

Mir macht der Gedanke an den Tod keine Angst - schlimmer ist der Gedanke an das Sterben selbst, denn da kann man nur hoffen, dass es ohne langes Leiden und nicht verfrüht geschieht. Ich hoffe nicht, lange mit einer Krankheit einen hoffnungslosen Kampf führen zu müssen, nur um dann meinem Körper bei der Degeneration zusehen zu können.
Diese Hilflosigkeit, welche ich bei einigen Patienten sehe, die sich weder selbst versorgen noch den Urin halten können, möchte ich nicht erleben. Man bietet ein Bild des Elends, betrübt die Mitmenschen, die einen so ganz anders in Erinnerung haben mit dem Anblick, verliert die Würde und bei Verlust der geistigen Fähigkeiten auch noch die Möglichkeit, über sich selbst zu bestimmen.

Manchmal kam es mir so vor, als hätte der besagte Patient klare Momente. Dann sprach er von seiner Frau, seinem Sohn, erzählte von früher, eine Anekdote zu seinem Gebiss. Noch immer stottrig und leise aber doch zusammenhängend.
Als ich die Pfleger auf diesen Zustand hinwies, entgegneten sie, dass das nicht ernst zu nehmen sei. Nicht ernst zu nehmen. 
Ich stellte mir vor, wie es mir ginge, wenn ich meistens geistig umnebelt gelegentlich doch wieder klar denken könnte und mich trotzdem niemand für voll nähme. Man würde gegen eine Wand reden, weiter wie ein Kind behandelt werden und irgendwann einfach verzweifeln.

Dem Mann wurde in diesen Augenblicken auch klar, dass er nicht wirklich eine Chance auf Heilung hat. Noch weniger Gründe für ihn, das tägliche Elend der Schmerzen, der Verwirrung und die fehlende Beachtung zu ertragen.
Nach einem der Weinkrämpfe brachte ich ihn in sein Zimmer, sollte ihn beruhigen. Ich streichelte seine Hand, um ihn irgendwie zu zeigen, dass er nicht ganz allein ist. Und auch einfach, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun können. Er weinte bitterlich und meinte, dass er sich umbringen würde, wenn er könnte, weil er das nicht mehr aushalte. Er fragte mich, ob ich ihm dabei helfen könne.

Sterbehilfe. Ich hielt die Möglichkeit, selbst entscheiden zu können, ob das eigene Leben noch lebenswert oder aussichtslos wie hier im Falle einer durch eine Krankheit extrem niedrige Lebensqualität ohne Aussicht auf Besserung ist, schon immer für sinnvoll. Doch erst in diesem Moment konnte ich verstehen, weshalb Ärzte und Pfleger eben diese Sterbehilfe auch trotz des diese ablehnenden Gesetzes gaben. Weil alles andere in einigen Fällen bedeutet, den Patienten weiter leiden zu lassen und hoffen zu müssen, dass das Leiden kein allzu langes mehr ist. Das Gefühl der Hilflosigkeit ist grässlich. Die Hand desjenigen halten und Trost spenden ist alles, was ich tun konnte.

Der Mann wurde in eine andere Station verlegt, doch auch da können sie nur noch palliativ statt kurativ behandeln. Gefühlt ist der Totenschein schon vorbereitet und man wartet nur noch darauf, das Datum eintragen zu können.

Zwar ist er nun nicht mehr auf der Station, in der ich mein Praktikum absolviere, doch aus den Augen heißt nicht immer aus dem Sinn. Ich erlebe sein Sterben nicht mit, sein Leid erlebte ich aber. Das Problem ist, dass ich eine gewisse emotionale Bindung zum Patienten zuließ. Ich habe Mitgefühl. Patienten sollten einem nicht gleich sein, doch eine gewisse Distanz hilft. Zukünftig werde ich auch besser darauf achten, eben jene zu wahren. Es gibt realistisch betrachtet im Klinikalltag einerseits zu viele Patienten für zu wenig Personal, um sich für jeden Zeit für persönliche Gespräche, die über die Behandlung hinaus gehen, zu nehmen und andererseits ist es viel zu belastend, den Patienten nicht nur als Patienten, sondern auch als Person; als Charakter zu betrachten und dementsprechend sich wohlmöglich mit demjenigen verbunden fühlend mit zu fühlen und zu leiden. Es ist wohl Selbstschutz, eine gewisse distanzierende Schutzmauer aufzubauen.

In der Pathologie war es deutlich weniger bedrückend. Dort leidet niemand mehr.

Apfelkern

4 Kommentare:

  1. Ohne Abstand geht sowas auf Dauer auch nicht. Eher noch muß man sich makaber drüber amüsieren können.

    Frag mich ohnehin, ob man nicht einfach die Leistungsempfänger zum Seniorenbetreuen abstellt. So 1-2 mal die Woche für jeden. Da kann der Vollasi noch was lernen und die alten haben Betrieb in der Birne. Verantwortung und soziale Empathie sind nicht die schlechtesten Errungenschaften auf dem Weg zur Jobsuche und der Sozialstaat läuft auch wieder etwas besser. Natürlich sollten die Härtefälle nur professionell betreut sein, aber dafür wär dann auch mehr Zeit.

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  2. menschen leiden zu sehen ist etwas ganz schlimmes... so kann ich voll und ganz nachvollziehen, wie es dir mit diesem patienten erging. für mich wäre es nicht möglich diese distanz zu wahren, wenn ich so einen umgang mit patienten hätte. und bezüglich des leidens... ich habe damals in der schule schon nicht verstanden, wieso die sterbehilfe hier in deutschland, in einem so fortschrittlichen land, nicht erlaubt ist. eben um leidenden menschen zu helfen. oh man, ich mache mir immer zu viele gedanken über sowas >___<
    ich hoffe dein praktikum zeigt dir aber noch viele tolle seiten des arbeitlebens, so wie du es scheinbar anstrebst, auf.

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  3. Im Moment erlebe ich diese Emotion (zum Glück !?) gerade nicht, zumindest nicht im klassichen Sinne. Die letzte Zeile im Gedicht ist erklärt auch, warum ich das nicht unbedingt als negativ empfinde. Es mag zwar komisch klingen, aber ich habe im Moment kaum Zeit für feste soziale Kontakte und habe großes Glück, das meine Freunde das mitmachen. Zeit für eine andere Person, die sehr viel Zeit kosten würde, ist nicht vorhanden. Vielleicht ändert sich dies nach dem Abitur, aber bis dahin habe ich noch gut ein Schuljahr vor mir.

    Zu deinem Text: Ich habe solche Bericht zwar bis jetzt immer nur aus zweiter Hand gehört und noch nie selber erlebt, aber es scheint mir, dass die ganze Debatte um die Sterbehilfe vollkommen an der Realität vorbeigeht. Es wird relativ viele Personen geben, die nicht, wie du es anscheinend recht gut geschafft hast, die emotionale Distanz zu dem Patienten wahren können. Diese Personen würden dem Wunsch des Mannes wahrscheinlich nachkommen ... und das zu recht!

    Ich wünsche dir noch viel Spaß beim Praktikum,
    Pearl.

    PS: In der Pathologie beschweren sich die Patienten auch nicht mehr ;-)

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  4. Hey,

    bin gerade über deinen Blog gestolpert.
    Echt toll gemacht. Kompliment.
    Vielleicht besuchst und folgst du uns ja auch.
    http://lenchen23.blogspot.de/

    Liebe Grüße

    Mareike und Chilli

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