Dienstag, 15. Mai 2012

Einsame Herdentiere

Wir hocken aufeinander und kennen uns nicht. Hunderte Einwohner pro Quadratmeter und man weiß nicht einmal, wie genau die Nachbarn eigentlich heißen. Es grüßt kaum jemand, wir hetzen aneinander vorbei, die Uhr im Blick und das Handy in der Hand. Zu Hause erst einmal den Computer anschalten, Mails checken, lesen, was Bekannte und Freunde getan haben, kommentieren, selbst Meldungen verfassen, sich unterhalten lassen. Allein.

Ich habe das Gefühl, die Menschen in unserer Gesellschaft des Wohlstands waren selten so einsam, wie sie es heute sind. Einzelkinder, Alleinerziehende, ewige Junggesellen, Witwer.
Nicht einsam, weil niemand in der Nähe ist, sondern einsam, weil die geistige Vertrautheit fehlt. Wie viele Personen gibt es, denen ihr euch völlig anvertrauen würdet? Kennt ihr sie alle aus dem wirklichen Leben oder sind es Onlinekontakte?

Man braucht zum Überleben kaum noch persönlichen Kontakt, die moderne Kommunikation macht es möglich: Fernstudium, Pizzadienst, Amazon, eigenes Auto statt Fahrgemeinschaft, sogar der Beruf lässt sich aus der Öffentlichkeit ins Heimbüro verlegen. Das reduziert die Zeit, die man mit anderen verbringt stark. Weniger Berührungspunkte mit anderen bedeutet gleichzeitig natürlich auch, dass mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit neue Bekanntschaften im Alltag entstehen. Und Bekannt- und Freundschaften zu pflegen fällt schon allein wegen Distanzen und Zeitmangel nicht immer leicht.

Wie gut, dass es Telephone gibt. Wie viel besser, dass es das Internet gibt.
Man liest Worte anderer, sieht ihre Videos und hört ihre Aufnahmen, kommentiert diese, kommt dadurch vielleicht in näheren Kontakt zu den aktiv mitteilenden Personen, wird eventuell angeregt,  selbst aktiv zu werden. Weitere Kontakte entstehen, man wird Teil von Gruppen und Netzwerke , kennt einzelne Mitglieder davon irgendwann vielleicht näher als oberflächlich, weil der Kontakt sich auf eine persönlichere Ebene verlagert.

Und doch sind beispielsweise meine Eltern überzeugt, dass das Internet isoliert und zur Vereinsamung führt.

Den Gedanken teile ich überhaupt nicht. Denn die Kontakte verlegen sich nur auf eine andere Plattform, entstehen so, dass man äußerlich nicht davon sieht. Zumindest vorerst sind diese Kontakte nach außen hin unsichtbar, bis sie die Ebene wechseln, man sich trifft. Morgen werde ich zum ersten Mal eine Bloggerin treffen, die ich auch durch genau diese Tätigkeit kennengelernt habe.
Ich bin gespannt, ob man sich auch offline genauso gut versteht wie online, doch warum sollte es denn nicht so sein? Das Internet verbindet viele, die ohne jenes nicht zusammengefunden hätten, was aber nicht daran liegen muss, dass sie grundverschiedene Charaktere haben, die inkompatibel sind. Man wagt sich direkt einfach nur nicht, jemanden direkt anzusprechen wohingegen ein Kommentar oder ein Tweet an eine interessant und sympathisch erscheinende Person schnell geschrieben sind. Der Wechsel in private Chats oder zum direkten Mailaustausch ist schnell vollzogen.
Eigentlich erleichtert das Internet uns damit die Kontaktaufnahme. Warum aber findet sich trotzdem so oft das deprimierende Forever-Alone-Gesicht?

Ich denke, es liegt an den verschiedenen Verhaltensweisen am PC. Nicht jeder ist aktiv, schreibt und tauscht Gedanken aus. Es gibt Nutzer, die den Computer hauptsächlich als Informationsquelle und Unterhaltungsmedium verwenden. Dass man bei Wikipedia, bloßem Ansehen von Videos und Offlinespielen keine Bekanntschaften schließt, ist aber kein Wunder. Man muss also zwischen konsumierenden Passivnutzern und produzierenden Aktivnutzern des Internets unterscheiden. Und bei letzteren würde ich eine starke Ausbildung von Kontakten und Verknüpfungen, die sich irgendwann auch ins Leben 1.0 verlagern könnten diagnostizieren wollen.

Selbst wenn man aktiv Texte schreibt, wird man nicht umgehend in ein Netzwerk von Personen eingebunden. Man denke nur an das Klischee des einsamen Bloggers, der täglich ellenlange Texte einstellt, die dennoch so gut wie nie gelesen oder kommentiert werden. Solche Bilder halten sich anscheinend hartnäckig in den Vorstellungen von Personen, die wenig netzaffin sind. Das würde auch die direkte Assoziation des Internets mit Einsamkeit erklären.

Aber ich verstehe auch die Bedenken, man könne im Internet keine Freundschaften knüpfen, weil man sich zu leicht anonym oder mit gefälschten Profilen darin bewegen kann. Wem soll man denn vertrauen? Wer weiß, wer sich hinter dem Bild eines niedlichen Kätzchens verbirgt.
Aber in der Realität ist es auch nicht viel anders: man kann sich auch dort sehr hinter einem bestimmten Äußeren verbergen, jedoch nicht so vollständig wie es online möglich ist.

Einsamkeit ist kein Nebeneffekt des Internets. Ich denke dabei an eine kürzlich gedruckte Zeitungsmeldung, die inzwischen mumifizierte Leiche einer vor dem Fernseher verstorbenen Rentnerin sei zufällig von einem Einbrecher gefunden worden. Fünf Jahre nach ihrem Tod; in Deutschland.
Die Miete war automatisch von ihrem Konto abgebucht worden, vermisst hatte sie anscheinend niemand. Es klingt wie ein Albtraum: man stirbt und wird von niemandem vermisst.

Viele alte Menschen sind allein. Auch meine Großeltern haben jeweils ihren Partner verloren, leben allein und freuen sich über jeden Besuch, jede Gesellschaft. Ein täglicher Besuch ist kaum möglich, da man schon mit der Bewältigung des eigenen Lebens gut ausgelastet ist, doch es wäre sicher häufiger ein Besuch möglich, als man ihn letztendlich durchführt. Es gibt so viele Aufgaben und Möglichkeiten auf die man seine Zeit verwendet, dass für solche Besuche, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, kaum Zeit bleibt.

Ist es eine Isolation aus Zeitmangel? Früher arbeiteten die Menschen weniger mit Maschinen zusammen als mit anderen Menschen, heute ist es nicht selten umgekehrt. In Zeiten ohne großartige Medienangebote waren Gesellschaft und Handarbeiten ideal, um den Abend zu verbringen. Der digitale Mensch dagegen sieht sich auf dem Höhepunkt der allabendlichen Geselligkeit den Tatort allein im Wohnzimmer sitzend an und twittert parallel dazu darüber.

Da kommt das Internet wieder ins Spiel: es verbindet doch, bietet zumindest das Potential dazu. Wie weit man das ausschöpft ist jedem selbst überlassen. Genau wie die Entscheidung, einfach mal wieder spontan analog jemanden kennenzulernen statt immer nur aneinander vorbeizulaufen und den Blicken anderer auszuweichen.

Einsamkeit ist nichts, was wir uns wirklich wünschen, denn tief in unserem Inneren sind wir doch Herdentiere. Einsamkeit ist auch nichts, wozu wir gezwungen sind. Es gibt mehr als genug Menschen auf dem Planeten, mit denen wir in Kontakt kommen können. An der Auswahl mangelt es nicht, eher an dem Mut, auf andere zuzugehen. Etwas, das ich gut nachvollziehen kann. Das Stichwort lautet Schüchternheit.
Aber man kann bei diesen Kontaktaufnahmeversuchen rückblickend nur gewinnen. Erfahrungen, ein gutes Gespräch, Bekanntschaften, im besten Fall Freundschaften. Und die anderen sind für gewöhnlich nicht weniger froh als man selbst, neue Bekanntschaften knüpfen zu können.

Apfelkern

2 Kommentare:

  1. Mir hat vor vielen Jahren mal jemand etwas gesagt, was ich nie vergessen habe. "Den Mutigen gehört die Welt". Ich finde er hat recht.

    Also, sei mutig. Was soll schon passieren? Entweder man mag die Menschen, die man auf die eine oder andere Art und Weise kennenlernt und das beruht auf Gegenseitigkeit. Dann hat man viel gewonnen.
    Oder man stellt fest, dass die Wellenlängen doch zu unterschiedlich sind. Dann hat man nichts verloren.

    In diesem Sinne wünsche ich Dir Mut und Erfolg bei Deinen Begegnungen mit Menschen, egal wo diese Begegnungen ihren Ursprung haben!

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  2. Ich finde es zwar kontrovers, im Schatten der Oma-Mumie das Vermissen aus einer Online-Community als einen Fortschritt zu sehen, aber im Grunde ist das Internet wohl tatsächlich ein Schritt zurück zur Interaktivität. Bedenkt man, daß der mal möglicherweise lebenswichtige Drang zum Tratsch abgelöst worden ist durch Society Magazine, die Aufmerksamkeit abgelenkt wurde erst durch Seifenopern, dann Dailytalk- und Gerichts-Shows, dann ist die Entwicklung hin zu Lebenshelfern oder eben der Kommunikation im Internet basierend auf ähnlichen Rezeptoren sicher eine begrüßenswerte Entwicklung.
    Persönlich sehe ich aber - auch aufgrund der Erfahrung, daß Online-Kontakte in der Realität praktisch nie auf Dauer fruchten und das Folgen einer Informationskette schnell zu sinnfreiem Streß und Burnout führen kann - das Internet nur als eine in mein Firstlife integrierte Plattform, aus der ich Bereicherungen für mein Leben beziehe und im Geiste einer freien Gesellschaft auch als Gegenleistung etwas zurückgeben möchte (durch Datenpflege und Information).
    Meine Stimmung als solche geht aber deutlich zurück zur Basis. Statt zwei Mobiltelefonen mit unterschiedlichen Erreichbarkeitspriorisierungen führe ich gar kein Handy und keine Armbanduhr mit mir. Wer mich telefonisch erreichen will, muß mich in der Regel zuhause anrufen. Da ich Autofahrer bin, entfallen auch sonstige Accessoires wie MP3-Player. Ich nutze nur noch drei E-Mailadressen, die in unterschiedlichen Intervallen abgerufen werden. Hierbei findet eine klare Kontaktpriorisierung statt. Des weiteren bin ich sporadisch noch in Messengern zu finden, wo meine wenigen dort vorhandenen Kontakte oft nach Verabredung die Möglichkeit einer kostenfreien "Sprechstunde" nutzen können. Vielleicht will auch ich einfach das Geld sparen.^^
    Was ich aber viel toller finde, ist daß ich auch einfach mal wieder spontan bei Leuten vorbei fahre, ohne zu wissen, wo sie sind. Es macht einfach Freude, dieses Abenteuer wieder auf sich zu nehmen, einen Abend ohne Plan zu starten oder ohne Hilfsmittel einen Ort anzusteuern und sich nicht im Klaren zu sein, ob man ihn jemals erreichen können wird. Übrigens schafft man das oft trotzdem in angenehmer Geschwindigkeit.
    Ich nutze das Internet bereits seit den 90er Jahren und habe die Entwicklung von simplen HTML-Seiten, die man über sein tutendes Modem in ewiglanger Ladezeit auf den Bildschirm zauberte, bis hin zum heutigen Status Quo live miterlebt. Und ich finde es toll. Aber ich habe auch gelernt, daß es nur Spaß macht, wenn man sich nicht davon dominieren läßt. Und ich kämpfe heute noch jeden Morgen damit, mal nicht den Rechner anzuwerfen, Mails oder Kommentare zu checken. Das ist ein letztes Geschwür, welches ich gerne noch entfernen würde. Dieses Gefühl auf der Arbeit zu sitzen und nicht zu wissen, was über Nacht noch passiert ist und möglicherweise Einfluß auf den Tag und/oder Feierabend haben könnte.
    Das Faszinierendste vielleicht ist aber, daß - obwohl ich aus einer Gegend komme, in der viele Menschen Internet haben, aber kaum jemand in irgendeiner Form aktiv zu sein scheint - mein Streben Teil einer großen Bewegung meiner Generation zu sein scheint. Vielleicht werden wir nur alt. Vielleicht haben wir aber auch Weisheit gefunden.

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